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Wechselstimmung


Für Viele erschien der Wechsel des Koalitionspartners der seit fast einem Vierteljahrhundert in Hessen regierenden CDU überraschend. Nicht mehr mit den Grünen will Wahlsieger Boris Rhein weitermachen, sondern die schwer angeschlagene SPD in‘s Regierungsboot holen. So ein Ereignis findet Anklang bei Journalisten, es schafft Gewinner und Verlierer, es schafft menschliche Geschichten und lädt zu Spekulationen ein.


Im Grunde allerdings war es einigermaßen erwartbar. Aus Sicht der Union und des Ministerpräsidenten Boris Rhein sprechen zunächst strategische Gründe für den Wechsel zu SPD. Erstens war Schwarz-Grün ein Herzensprojekt seines Amtsvorgängers Volker Bouffier, der sich damit einen Platz mindestens in den hessischen Geschichtsbüchern geschaffen hat und der dieses Projekt mit Inbrunst gehegt und gepflegt hat. Aus welchem Grund sollte ein vergleichsweise junger Ministerpräsident dieses Projekt fortführen, wenn es die Gelegenheit gibt, ein neues Projekt zu schaffen, das ihm innerhalb seiner Partei eine gewisse Alleinstellung verschafft?


Neben diesen Eitelkeiten muss die Machtdimension betrachtet werden. Die Grünen haben mit Tarel Al-Wazir einen politisch talentierten, sehr bekannten und sehr pragmatischen Spitzenmann, der durchaus Ansehen über das Potential der Grünen hinaus hat, dieses allerdings bei der letzten Landtagswahl aufgrund der Gesamtgemengelage nicht in Stimmen umsetzen konnte. Das muss bei der Wahl 2028 nicht so sein. Nach Al-Wazir kommt bei den hessischen Grünen niemand, den man einigermaßen glaubwürdig zu einem Ministerpräsidentenkandidaten aufstellen könnte. Al-Wazir wird nicht fünf Jahre auf der Oppositionsbank verbringen, das hatte er schon zur Genüge. Ist er nicht mehr stellvertretender Ministerpräsident, ist er aus dem Spiel. Rhein hat also seinen derzeit ärgsten Widersacher neutralisiert und die Grünen personell ausgedünnt. Ungeschickt ist das nicht.


Auf der anderen Seite hat die SPD in Hessen - ähnlich wie die Grünen - personell aktuell niemanden im Köcher, der über die Landtags-Blase hinaus einer größeren Anzahl von Menschen aufgefallen wäre. Das größte Zugpferd hat den Wagen bei der Landtagswahl gerade so über die Ziellinie gezerrt und sieht seine Aufgabe auch in der Bundespolitik, was analog zu Tarek Al-Wazir auch logisch ist, denn Bundesminister spielt in einer anderen Liga, als Landesminister, selbst als stellvertretende Ministerpräsidentin. Mit anderen Worten: es wird nicht allzu viel Störlicht geben, das vom Glanz des Ministerpräsidenten ablenkt. Und das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch 2028 nicht. Der Grundstein für einen Wahlsieg und weitere unionsgeführte Regierungsjahre wurde also gelegt, zumindest wurde alles richtig gemacht.


Viel wurde auch spekuliert, was diese Wende denn für Auswirkungen auf die Ampelkoalition in Berlin und die Kanzlerfrage in der Union haben könnte. Ja, natürlich zeigt dieser Wechsel politisch eine neue Konstellation auf und natürlich ist jemand wie Boris Rhein auch einer, der möglicherweise als der - nicht am Rande einer Flutkatastrophe - lachende Dritte oder Vierte an die Kanzlerkandidatur kommen könnte, falls er das überhaupt will. Das sind ungemein spannende Fragen, gerade auch für Journalisten. Aber jenseits von Koalitionsarithmetik ist doch interessant, welche Auswirkungen es auf die konkrete Politik im Land, und zwar in Deutschland, es inhaltlich haben wird.


Hessen ist ein großer und traditionsreichen Automobil- und Chemiestandort. Beide Branchen sind von der industriellen Transformation erheblich betroffen. Regionen wie der Norden Hessens sind deutlich von der Automobilindustrie geprägt. In Frankfurt ist ein ganzer Stadtteil nach einem Chemieunternehmen benannt, wenngleich dieses unter dem Namen nicht mehr existiert. Klar ist, dass die Sozialdemokratie bei der industriellen Transformation das Thema Arbeitsplätze ganz anders auf der Agenda haben wird, als selbst ein pragmatischer Grüner. Diese Themen werden nicht mehr klimaideologisch angegangen werden, sondern vielmehr so, dass die Unternehmen und Arbeitsplätze erhalten bleiben.


Diese Grundhaltung trifft auf eine Union, die schon im Wahlkampf und nun auch in der Begründung für den Wechsel des Koalitionspartner deutlich gemacht hat, dass sie die Dinge pragmatisch und nicht ideologisch angehen will. Nicht mir Verboten agieren will, sondern vielmehr Wege zum Ziel aufzeigen möchte. In der Energiepolitik wird das nicht bedeuten, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien zurückgefahren wird. Es wird nicht weniger Windräder geben. Es wird auch nicht bedeuten, dass der Wiedereinstieg in die Atomkraft zur Diskussion steht, das wird auch mit der SPD, die gerade in Hessen in dieser Frage ideologisch sattelfest ist, nicht zu machen sein. Aber die Frage, ob die Elektrifizierung von Verkehr, Wärme und Industrie gleichzeitig möglich und sinnvoll ist, wird gestellt werden. Zumal in der chemischen Industrie bestimmte Verfahren gar nicht so ohne weiteres dekarbonisiert werden können, weil es schlicht bestimmte Moleküle dafür braucht.


Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die zukünftige hessische Landesregierung den Blick nüchtern auf die industrielle Transformation und die Energiewende werfen wird. Ohne ideologische Scheuklappen wird die Technologieoffenheit, die ja auch für das Speichern von erneuerbarer Energie nutzbringend sein kann, womöglich neue Ideen und Wege hervorbringen, die in die Diskussion eingebracht werden. Und das wird dann tatsächlich Auswirkungen auf die Ampelkoalition und insbesondere die Grünen haben. Der Druck zur Bewegung wird auch aus dieser Richtung kommen, nicht nur aus der offensichtlichen Migrationspolitik. Denn eine Wechselstimmung gab es entgegen der Analyse der hessischen Grünen ja schon. Nicht zwingend in Hessen. Aber in der Bundespolitik, die diese Landtagswahl überschattete. Es wird also zukünftig eine Art Gegenentwurf zur Berliner Politik geben, aus einem Flächenland mit Ballungszentren heraus. Nicht aus einem Bundesland mit starker regionaler Identität, wie Bayern. Und nicht aus einer grundproblematischen Großstadt, wie Berlin. Sondern aus einem im besten Sinne durchschnittlichen, repräsentativem Land heraus. Das ist der Impact, den die hessische Politik auf die Bundesregierung und die Ausrichtung der Bundespolitik haben wird. Er wird sich bemerkbar machen.

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